Samstag, 3. März 2012

Dünnhäutig

Am Mittwoch hatte ich einen sehr dünnhäutigen Tag.
Ich war auf dem Weg zum Zahnarzt und deshalb sowieso schon leicht angespannt.
In der U-Bahn wurde ich von einem Mädchen sehr unangenehm gemustert, sowas kann ich schon nicht leiden und die innere Spannung verstärkte sich augenblicklich.
Lediglich meine gute Erziehung hat mich davon abgehalten, mich woanders hinzusetzen. (Wär aber gscheiter gewesen, offensichtlich war das Mädel ja schlecht erzogen, sonst hätte sie sich deutlich diskreter verhalten.)

Dann steigt ein kleines, fröhliches Mädchen ein, vielleicht dreijährig mit dicken Rastazöpfen und breitem Lachen - mein Herz öffnet sich ...

... und zieht sich sofort krampfartig zusammen, als die Mutter oder große Schwester von der andern Seite angeschossen kommt. Sie packt das Kind, dem das Lachen im Gesicht gefriert, am Arm und zerrt es laut schimpfend aus meiner Sichtweite.
Ja, es ist gefährlich, wenn ein Kind einfach wegläuft und allein einen andern Einstieg benutzt. Ist schon oft genug vorgekommen, daß ein Kind in den Spalt zwischen Bahnsteig und Tür gestolpert ist und es kann böse enden.
Doch das Einbrechen der erbosten Erwachsenen in die fröhliche Szene hatte etwas unglaublich Brutales und als das kleine Mädchen irgendwo hinter mir zu weinen begann, stiegen mir fast selbst Tränen in die Augen.

Nach dem Zahnarzt hatte ich Schmerzen, in der Apotheke stand ein freundlicher, wenngleich absolut verwahrloster junger Mann, der sich irgendein Mundpflegemittel geholt hatte und vom Apotheker freundlich gebeten wurde, seine Zahnfleischwunden doch bitte draußen einzuschmieren.
Vermutlich wieder ein Junkie, wobei ich mich nicht erinnern kann, daß die Junkies früher ähnliche Zahnfleischschäden hatten. Ich will jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen, aber ich glaube, da steckt eine andere Droge dahinter. Vielleicht Crystal Meth, auf jeden Fall tippe ich auf was, was früher nicht so verbreitet war.

Wie schon einen Tag zuvor, als ich kurz in Berührung mit einem andern Drogenabhängigen kam, tat es mir im Herzen weh, wie heruntergekommen der Mann war.
Es ist erschreckend, wieviel Leid es rund um uns gibt, wie erfolgreich ich es ausblenden kann (gerade, wenn ich nicht den öffentlichen Verkehr nutze) und wie wenig ich dagegen tun kann.
Ich muß dann immer drüber nachdenken, welche Umstände und Erlebnisse zu diesem Zustand geführt haben, wie der Alltag für diesen Menschen aussehen mag.
Furchtbar!!
Doch die Überlegungen führen zu nix.
Ich halte mir dann immer vor Augen, daß ich in meinem Job, der ganz niederschwelligen Betreuung von Kindern, vielleicht den einen oder andern vor solch einem Schicksal bewahren kann. Und daß sich die Unterstützung, die wir den Kindern geben, über die Jahre potenziert, weil einige Kinder es dann später selbst weitergeben an die nächste Generation.
Es mag ein Tropfen auf den heißen Stein sein, aber ich werd die Welt nunmal nicht retten können.

Auf der Fahrt nach Hause - endlich im Auto, meinem geschützten Raum! - hat mich folgendes Lied getröstet:

Neue Blickwinkel

Diese Woche war ich seit langer Zeit wieder einige Tage mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.
In den letzten Jahren hat es sich vor allem durch den Arbeitsweg so ergeben, daß ich fast nur mehr mit dem Auto gefahren bin.

Meine Abneigung gegen die Öffis beruht auf den üblichen Unannehmlichkeiten (die nach Jahrzehnten ausschließlicher Öffi-Nutzung auf Tatsachen beruhen!):
  • Der weitere Weg zum Transportmittel ist bei dem derzeitigen stürmisch-regnerischen Wetter nicht grad angenehm, bei Sommerhitze ebensowenig.
  • Je nach Ziel und Tageszeit dauert die Fahrt wesentlich länger, als mit dem eigenen Wagen.
  • Ist man - wie ich - chronisch unpünktlich, kann man dies nicht durch schnelleres Fahren kompensieren. Ist der Bus weg, ist er weg. Das kann zu gröberen Verspätungen führen.
  • Ich mag weder warmes Stink noch zuviel Nähe zu fremden Mitmenschen.
    Und ja, genau die, die man am meisten verabscheut, kleben immer am engsten an mir.
    Vorvorgestern wurde ich von einem total versifften, vermutlichen Junkie mit schlimmstmöglicher Gebissruine auf die Schulter gespeichelt geküsst. Weil ich - immer gerne für meine Mitmenschen da - kurz sein Sackerl gehalten hab, damit er seinen Schlüssel aus der Jackentasche nesteln kann.
    War lieb gemeint, hätt aber net sein müssen. Also - das Küssen.
  • Ich fang zuviel an Stimmungen und Emotionen der Mitreisenden auf. Kann die andern schlecht ausblenden. Trotz dem vorgestellten goldenen Dreieck, das mein Drittes Auge (Stirnchakra) verschließen soll.
    (Ein Tipp meiner ehemaligen Therapeutin)
    An dünnhäutigen Tagen kann mich die fehlende Fluchtmöglichkeit ganz schön aus der Fassung bringen. Das ist mir am Mittwoch wieder sehr stark aufgefallen. Im Auto kann ich in so einem Fall noch sitzenbleiben und schauen, daß ich runterkomm. Oder ich fahr ein Stückerl weiter und geh ein paar Schritte im Wald oder in einem Park.
  • Ich mag es nicht, beobachtet zu werden. Vorgestern saß mir ein junges Mädchen gegenüber, das sämtliche Passagiere (mich auch *grrrr*) mit großen Augen von oben bis unten abscannte. Aber nicht, daß ihr glaubt unauffällig, das macht ja jeder manchmal.
    Nein! Direktes Starren mit langsam auf- und abwanderndem Kopf. Brrrr! Ich war knapp davor mich wegzusetzen.
  • Ich schlepp äußerst ungern schwere Einkaufssackerl weiter als unbedingt nötig. Bedarf keiner weiteren Erklärung.
  • Ich liebe, liebe, liebe es, im Auto lauthals mitzusingen und zu schimpfen, wenn einer der andern Autofahrer wiedermal völlig unfähig ist!
Trotz alledem hab ich mir in den letzten Tagen gedacht, es wär vielleicht gar nicht so schlecht, doch wieder öfter öffentlich zu fahren.
Den Umweltgedanken führ ich jetzt nicht an, der liegt sowieso auf der Hand, aber in dem Punkt lass ich ganz ehrlich meinen Egoismus siegen.
Wenns mir besser geht, gehts meiner Umwelt nämlich auch besser.

Was ist also positiv:
  • Auf dem Weg von und zur Haltestelle hat man immer wieder ein bissl Bewegung zwischendurch und vor allem frische Luft.
  • Im Gegensatz zum Autofahren muß man sich in U-Bahn oder Autobus nicht konzentrieren. Nur grob die angefahrenen Stationen im Blick behalten und die Gedanken schweifen lassen.
    Oder Musik hören.
    Oder Lesen - da komm ich eh nie dazu.
    Oder die Augen schließen und ein bissl dösen.
  • Insgesamt entsteht also eine relativ (je nach Route und Menschenaufkommen) ruhige Pause zwischen den Stationen des Tages, in der man den Kopf abschalten kann.
  • Man lernt wieder neue Perspektiven kennen. Die eigene Stadt sieht abseits der gewohnten Wege wieder spannend und fremd aus. Interessant zu sehen, wie ein Grätzl, von der gegenüberliegenden Seite aus betrachtet, einen völlig anderen Einblick bietet.
Nach genauer Nutzen-Risiko-Abwertung werd ich also künftig wieder öfter außerhalb meines geliebten Autochens die Stadt erkunden.

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