Mittwoch, 9. November 2005

Anna und Helmut - Zerissenheit

So nutzte Anna jede Gelegenheit, Urlaub zu nehmen oder zumindest ein verlängertes Wochenende und fuhr heim ins Tal der Gesetzlosen.
Dort war zwar auch lange nicht alles schön und toll, aber mit diesen Umständen war sie vertraut, hier hatte sie schließlich jahrelang gelebt.
Völlig unerwartet lernte sie daheim einen neuen Mann kennen, Helmut. Ganz langsam und behutsam, immer wieder ein Schritt vor und wieder einer zurück entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen den beiden.
Helmut war ganz anders als alles, was Anna in Bezug auf Männer bisher kennengelernt hatte. Er bewirtschaftete den Hof seiner Eltern, war naturverbunden und eher schüchtern. Oft erstaunte er Anna mit der Aussage, dieses oder jenes, das müßte sie bei ihm nicht machen, er wär sehr zufrieden damit, einfach nur mit ihr den Alltag zu teilen, Spaß und Zärtlichkeit zu erleben, es mußten keine gewaltigen Erlebnisse da sein. Anna allein reichte vollkommen aus.
Klar gab es dann und wann Diskussionen, Mißverständnisse, die Beziehung auf Distanz war nicht einfach, vor allem da Anna langsam wieder lernen mußte, jemandem zu vertrauen. Und langsam aber sicher gewann sie die Gewissheit, daß dieser Helmut sie tatsächlich liebt. Sie Anna, von Kopf bis zu den Zehen, rundherum und ganz allein, nur sie. Und zwar genauso, wie sie war, wenn sie ganz sie selbst war und kein bißchen anders.

Und schön langsam stellte sich die Frage, wo Anna ihre Zukunft sah. Sollte sie in Wien bleiben und die Beziehung weiter über diese Entfernung führen. Oder sollte sie heimkehren, heim in die Provinz, wo das Leben doch sehr anders verlief als in der Großstadt. Und genau darin lag ihre Furcht begraben, das Leben könnte am Land an ihr vorbeiziehen, sie könnte etwas versäumen, wenn sie nicht in der pulsierenden, schnelllebigen Stadt blieb. In der Stadt, wo auch ihre Karolin war, wo sie immer Trost und Zuflucht fand, egal was vorgefallen war.
Bei Helmut selbst fühlte sie sich auch geborgen und sicher, nicht so hin- und hergerissen, mehr zuhause. Allein mit seinen Eltern und Verwandten gab es Differenzen, ihnen konnte die Stadtpflanze Anna nichts gut genug machen. Sie kochte andere Speisen, sie war nicht so routiniert im Versorgen der Tiere und der Landwirtschaft und vor allem: Anna wollte Helmuts Zeit, sie wollte nach einer anstrengenden Woche ausschlafen, die körperliche Nähe nachholen, die sie nur am Wochenende erfuhr. Dies zu verstehen und zu aktzeptieren fiel Helmuts Familie, die ihn nur als einsamen Wolf kannte, schwer.

Anna war zerissen, wie sollte sie sich entscheiden? Hunderprozentig wohl fühlte sie sich weder da noch dort, irgendetwas war immer verkehrt, irgendetwas war immer dort besser, wo sie sich gerade nicht aufhielt.
Diese Entscheidung wurde ihr auf unerwartete Weise abgenommen, so daß sie sich nur mehr in ihr Schicksal fügen konnte.

Die letzte Zeit in Wien

Mittlerweile hasste Anna ihren Nachhauseweg.
Sie wechselte stets erst direkt gegenüber ihrer Haustüre die Straßenseite, um diese Mauer, die sie damals so lange in Nahaufnahme fixiert hatte, nur ja nicht wahrzunehmen.
Doch es half nicht.
Im Augenwinkel sah sie jedes Mal wieder die Szene, die sich abgespielt hatte. Wie sie sich weggeduckt hatte, als ihr Nicos Worte wie Fäuste ins Gesicht fuhren. Wie sie nicht wagte, sich aufzurichten, bebend vor Anspannung immer und immer wieder die Sprünge in den Segmenten der Mauer zählte, wie gelähmt darauf wartend, was nun kommt.
Doch er ging langsam davon, selbst geschockt von seiner unkontrollierten Wut, in der er Dinge sagte und tat, ohne sich der Auswirkungen bewusst zu sein.

Wie oft hatte sie, aus dem Fenster blickend, die Ecke fixiert, um die er doch endlich, endlich biegen sollte. Selbst wenn er nach Dienstschluss noch ein wenig sitzen geblieben wäre, er müsste längst da sein. Hoffentlich war ihm nichts passiert, anzurufen traute sie sich nicht mehr, aus Angst, dass er sie gleich wieder anschrie und sich kontrolliert fühlte.
Und letztendlich kam er irgendwann im Laufe der Nacht oder des Morgens doch noch heim, ohne dass irgendetwas Dramatisches passiert war. Er hatte eben noch mit wem geplaudert.
Dass Nico immer weniger Zeit mit Anna verbrachte, schien ihn nicht zu stören, ihm nicht mal aufzufallen, auch nicht, dass sie immer unglücklicher wurde.
Sie fühlte sich immer mehr als lästiges Anhängsel, nur dafür gut, ihm sein Essen zu kochen, nach außen hin seine Freundin darzustellen, ein Rückhalt, falls er sich bei der Suche nach neuen Abenteuern mal einsam fühlen sollte.
Und verdammt praktisch, um seine Wut irgendwo auszulassen.

Am Anfang war Anna ihm nichts schuldig geblieben. Wenn der Zorn sie packte, war sie rational kaum mehr zugänglich. Sie zog sich zurück und erlaubte ihm keine Zutritt zu ihrer Welt. Die Tür blieb zu, jeder Anrufversuch wurde sofort abgewürgt oder das Handy überhaupt nicht mehr eingeschalten.
Dieses Verhalten trieb Nico zur Weißglut, da sie so für ihn nicht kontrollierbar war.
Und er schaffte es mit der Zeit beinahe, sie doch zu kontrollieren. Durch ständige Vorhaltungen, Sticheleien, Vergleiche mit anderen hatte er sie fast soweit, sich selbst auch als wertlos anzusehen, so dass sie sich kaum noch wehrte.

Doch Karolin hatte auch ein Wörtchen mitzureden, sie stärkte Anna den Rücken und hielt bedingungslos zu ihr. Und irgendwann war der Punkt erreicht, an dem Anna nicht mehr konnte und nicht mehr wollte.
Sie war für Nico telefonisch nicht mehr erreichbar, schlief eine Weile nicht mehr in ihrer Wohnung, damit er sie nicht vor der Tür stehend überraschen konnte. Die paar Sachen, die bei ihm in der Wohnung waren, ließ sie sich von Karolin abholen.

Auch im Job lief es zu dieser Zeit nicht wirklich gut, die Chefin war ein echter Drachen, sodass nach und nach immer mehr Mitarbeiterinnen das Unternehmen verließen. Das bedeutete dass Anna immer mehr an Verantwortung und Arbeit übernehmen musste, gleichzeitig aber auch immer mehr vom Frust und Unwillen der Chefin abbekam.

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