Mittwoch, 4. Januar 2006

Wider die Kontrolle

Schon früh wehrte ich mich gegen die strengen Erziehungsgrundsätze meiner Eltern. Die Auflehnung ging soweit, daß ich die letzten Jahre im Elternhaus ausschließlich kämpfte und Krieg gegen meine Mutter führte.
Heute weiß ich, daß sie immer ihr Bestes versucht hat, daß sie mich liebte und immer noch liebt, so wie ich bin, auch wenn sie nicht alles in meinem Leben verstehen kann. Auch wenn ihr meine Gedankengänge oft verschlossen bleiben, ich bin ihr Kind und sie wird immer hinter mir und meinen Entscheidungen stehen.
Diese wohltuende Gewissheit habe ich leider erst seit wenigen Jahren.

Davor fühlte ich mich zunehmend als schwarzes Schaf der Familie, den Erwartungen der anderen nicht entsprechend, dem Leistungsdruck nicht gewachsen. Ich sehnte mich nach anderen Werten, als es die bürgerliche Leistungsgesellschaft verlangt, ich wollte nicht entsprechen, ich fühlte mich anders als der Rest der Welt und wollte auch anders sein.
Stundenlang las ich, verlor mich in anderen Welten und immer öfter flüchtete ich mich in den Schlaf, heute sehe ich hier die ersten Anzeichen der Depression.

Die Erzählung von Christiane F. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, üblicherweise als abschreckendes Beispiel propagiert, verfehlte bei mir diese Wirkung total. Vielmehr wuchs der Wunsch, mich abzugrenzen, einer Randgruppe anzugehören, gefährliche“ Substanzen und ihre Wirkung auf Geist und Körper kennenzulernen. Die Erfahrungen des Drogenkonsums waren erstrebenswert und auch die damit verbundenen Unannehmlichkeiten muteten eher interessant als schrecklich an.
Auch meine beste Freundin I. war meiner Ansicht. Allerdings hatte sie den Vorteil, daß ihre Eltern ihr Discobesuche bis spät in die Nacht erlaubten, was für mich kaum möglich war.

Spätestens nachdem ich, vollkommen auf mich allein gestellt, einen Ferialjob in Tirol ausübte, dort vorzeitig gekündigt wurde und mir daraufhin eben auf eigene Faust eine neue Unterkunft und auch einen neuen Job suchte, um die vollen zwei Monate meiner Ferien unabhängig zu verbringen, hatte ich für mich bewiesen, daß ich sehr gut allein zurechtkam.
Dementsprechend war nach meiner Heimkehr mein Verständnis für stark eingeschränkte Ausgehzeiten gleich Null. Schließlich war ich auch dort jede Nacht bis frühmorgens unterwegs gewesen und hatte meine Arbeit dennoch pünktlich und ordentlich erledigt.

So verlegte ich mich darauf, heimlich das Haus zu verlassen und gemeinsam mit I. per Autostopp nach G. zu fahren, und dort das Nachtleben, natürlich im verbotensten Lokal, das uns bekannt war, dem Q., zu genießen.
Wir fühlten uns herrlich frei, erwachsen und unglaublich cool, nichts konnte uns beeindrucken, wir waren über alles erhaben und unbesiegbar, so wie grade mal 17-jährige eben oft sind. Und wir lernten unglaublich coole Leute kennen, mit soviel Lebenserfahrung, H. zum Beispiel hatte ein Jahr in Griechenland gelebt und wenn er Geld brauchte, eben mal ein paar Orangen geerntet. Daß er in einer absolut heruntergekommenen Bruchbude ohne elektrischen Strom wohnte, bestärkte uns nur in unserer Gewissheit, daß so das wahre Leben aussieht. Man muß eben auch Kompromisse schließen können, wenn man frei sein will.

Zu Hause steuerte die Situation immer mehr einem Fiasko entgegen, wir wurden dabei ertappt, daß wir die Schule schwänzten. I’s Vater fuhr mit dem Auto auf und ab, um uns zu entdecken, wenn wir wieder mal entwischt waren. Für uns natürlich ein Spaß, wir hechteten wie Soldaten hinter einen Busch, sobald Scheinwerferlicht aufblitzte und wurden nie erwischt.
Am nächsten Tag, übernächtig und erschöpft, gab es natürlich ein Donnerwetter, aber das gab es sowieso, wenn nicht aus diesem Grund, dann aus einem anderen.
Ein harmonisches Familienleben war ein reiner Wunschtraum.

Unsere Lehrer, allen voran unser Klassenvorstand Prof. P., waren sehr bemüht uns gemeinsam mit unseren Eltern irgendwie noch am rechten Weg zu halten. Leider vergebens.
In einer Familienkonferenz mit I., unseren Eltern und Prof. P. versuchten wir, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
I. und ich träumten davon auszusteigen, durch Indien zu touren, irgendwie würden wir mit dem Geld schon hinkommen, Hauptsache weg von Schule, Eltern usw.
Und was mich heute noch erstaunt, mein Vater erklärte sich einverstanden, vermutlich kapitulierte er einfach vor unserem Trotz. Allerdings stellte er Bedingungen. Er war bereit uns fürs Erste eine Wohnung in G. zu finanzieren, wir sollten allerdings zumindest einige Monate arbeiten gehen und wenn wir genug Geld beisammen hätten, dürften wir nach Indien fahren.
Wir waren begeistert, genau einen Tag lang.

Dann war uns das alles schon wieder viel zu spießig, viel zu geplant, wir packten unsere Sachen, versteckten die Rucksäcke vorläufig im Wald und als die Luft rein war, fuhren wir nach G.
Dort angekommen rief ich meine Mutter an, sie solle sich keine Sorgen machen, es ginge uns gut, wir wohnen im besetzten Haus in G. und gut ist. Ihre erste Reaktion war: „Rutsch mir den Buckel runter!“ – daraufhin legte ich den Hörer auf und das war für Monate das Letzte, was meine Familie von mir zu hören bekam. Ausgenommen meine kleine Schwester, die ich ein, zwei Mal kontaktierte, um mir Sachen oder Geld zukommen zu lassen.

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